In der Schweiz begeht die röm.-kath. Kirche morgen am zweiten Sonntag der Fastenzeit den dies judaicus, den Tag des Judentums. Er soll bewusst machen: Für Christen und Christinnen stellt das Judentum nicht eine Religionsgemeinschaft unter anderen dar. Vielmehr ist Christsein mit dem Judentum konstitutiv verbunden, weil Christentum seinem Ursprung nach messianisches Judentum ist. Der Tag des Judentums soll die Verbundenheit von Kirche und Synagoge auch jenseits von Aufarbeitung der schrecklichen Vergangenheit und nicht nur durch die Bekämpfung des Antisemitismus zum Ausdruck bringen. Und doch hat der dies judaicus jedes Jahr einen besonderen Akzent; 2022 liegt er gerade darin, sich gegen den neu aufkeimenden Antisemitismus zu stellen.
Die Pandemie hat nämlich Verschwörungstheorien Auftrieb verliehen, die auch den Juden wieder Weltherrschaftsansprüche unterstellen. Wie einst im Spätmittelalter für die Pest, sollten sie auch heute hinter dem Corona-Virus stecken. Juden würden damit Politik und Wirtschaft destabilisieren, Geld verdienen und zudem vom Nahostkonflikt ablenken – natürlich sich in Israel besonders früh und gut durch Impfungen schützen. Dass Juden jedoch weltweit sehr unterschiedliche und gegensätzliche Positionen einnehmen und nicht konzertiert die Welt beherrschen, zeigt nur schon der Ukraine-Krieg: Auf der einen Seite ein jüdischer Präsident Wolodimir Selenzki in Kiew, der klug und mit allen Kräften für die ganze Ukraine gegen den russischen Aggressor kämpft. Auf der anderen Seite der Präsident des European Jewish Congress Mosche Kantor, ein russischer Oligarch, der so nahe bei Putin steht, dass er seit dem Beginn des Ukrainekriegs untergetaucht ist. Doch auch diese Tatsache werden Antisemiten zu rationalisieren versuchen. Der Glaube hinter Verschwörungstheorien ist jedoch gefährlicher Aberglaube in säkularer Form. Wenn man schon nicht mehr an den Gott der Bibel, der einen universalen Anspruch auf die ganze Welt hat, glaubt, dann projiziert man die Überreste und Zerrformen des Monotheismus auf das Judentum. Die ins Negative pervertierte Form sagt dabei nichts mehr über Juden aus, sondern über die eigenen Ängste und die Ohnmacht, die durch Machtphantasien kaschiert werden.
Ein kirchlicher Tag des Judentums ist ein Tag des Lernens, das die Friedens- und Versöhnungsbotschaft des Evangeliums nicht nur eine christliche Angelegenheit ist. Sie wird zusammen mit dem Judentum – dem Anderen des Christentums – allen Menschen guten Willens angeboten. Der dies judaicus steht dafür, dass Glaube und Religion weder für nationale, imperiale Interessen vereinnahmt noch säkular ausgeschaltet und neutralisiert werden dürfen. Vielmehr verpflichtet er, dass die religiösen und spirituellen Quellen über Gruppenzugehörigkeit hinweg für den Dialog, die Verständigung und für Versöhnung fruchtbar gemacht werden. Die christliche und jüdische Tradition richten sich nicht nur an das Individuum, das Anrecht hat, auf dem persönlichen Lebensweg in seinem Ringen um Lebensfülle begleitet zu werden. Das Judentum will „Licht für die Völker“ sein, so wie auch das Christentum. Die röm.-kath. Kirche unterstreicht dies, wenn sie ihr Dokument der Selbstreflexion beim Zweiten Vatikanischen Konzil pro
grammatisch mit den Worten Lumen gentium beginnen lässt. Dass die Kirche und viele Christen bei ihrem gesellschaftlichen Wirken viel Gutes erreicht haben, auf dem die säkulare Moderne nun aufbaut, wie auch ihr Versagen durch alle Jahrhunderte hindurch, dürften nicht erstaunen. Das Christentum wird immer von den Menschen ihrer Zeit geprägt, die sich oft allzu menschlich benehmen. Die realexistierende Kirche bleibt allzu weit hinter ihrem Anspruch zurück. Die Juden haben in besonderer Weise darunter gelitten. Daher ist es gut, dass der Tag des Judentums zu Beginn der jährlichen Fastenzeit steht. Umkehr tut immer und immer wieder not.
Bild: Ecclesia et Synagoga in Hannover.
Danke für dieses Leitwort zum aktuellen Tag des Judentums.
Mit einem Gedicht hat Marie-Luise Kaschnitz der stets notwendigen Umkehr lyrischen Ausdruck gegeben. Ihre Zeilen vermitteln im Lärm kriegerischer Tage die Hoffnung darauf, dass wir gemeinsam an der Zukunft bauen lernen.
Zukunft
Endlich sagt euch los vom Grauen; / zwar in Asche sinkt die Welt. / Doch Geschlechter werden bauen / Was vor unserm Blick zerfällt.
Ehe noch des Unheils Ende / Und ein neuer Stern erschien / Muss im Herzen sich die Wende / Muss ein Wille sich vollziehn.
Nur Geglaubtes lässt sich finden / Nur Gewissheit wird den Stein / Heilger Kräfte neu entbinden.
Stund um Stund sind verkettet: / Ehe uns die Zukunft rettet, / Müssen wir die…