Vor 10 Jahren war ich zu einem Seminar für Provinziäle in Rom an der Kurie der Jesuiten. Hundert Meter weiter hatten sich die Kardinäle zum Konklave versammelt. Am Abend des 13. März hatte ich mit einem befreundeten Schweizer Franziskaner ausgemacht, dass wir gemeinsam eine Pizza essen gehen. Doch an diesem Abend gab es keine Pizza, denn weisser Rauch stieg in den dunkeln Abendhimmel. Die Glocken begannen zu läuten. Wir strömten zusammen mit der Menschenmasse auf den Petersplatz, um weit vorne zu sein, wenn der neue Papst auf die Loggia tritt. Nach fünfviertel Stunden war es so weit. Nicht das „Buona sera“, mit dem der Papst für alle überraschend begrüsste, ist mir bis heute am stärksten im Ohr geblieben. Vielmehr das Erschrecken beim Hören seines Namens: Habemus Papam: Jorge Maria Bergoglio. Bergoglio! Ein Mitbruder und Jesuit als Papst: Da gehören wir nicht hin. Ein ehemaliger Provinzial, über dem sich die Jesuiten Argentiniens einst zerstritten. Nun nennt er sich Franziskus. Das war eine Steilvorlage, um mit meinem Franzikanerfreund zu spekulieren, was auf die Kirche zukommen mag, nicht bei einer Pizza, sondern unterwegs nach Hause, um da die ersten Antworten zu planen.
Als Judaist blicke ich heute darauf, was Franziskus für die jüdisch-christlichen Beziehungen getan hat. Viel, auch wenn es nicht immer im Vordergrund seiner Agenda steht. In seiner ersten Enzyklika Evangelii gaudium hat er programmatisch geschrieben: „Als Christen können wir das Judentum nicht als eine fremde Religion ansehen, noch rechnen wir die Juden zu denen, die berufen sind, sich von den Götzen abzuwenden und sich zum wahren Gott zu bekehren.“ (Nr. 274) Mit dem zweiten Satzteil nimmt Franziskus zur Debatte Stellung, ob Juden im traditionellen Sinne missioniert werden müssten. Nein, sie sind bereits beim Gott Jesu Christi. Sie haben eine Sonderstellung. Franziskus nennt das Judentum „Volk des Bundes“ und unterstreicht, dass es auch heute für Christen theologische Bedeutung hat: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringt… (es) besteht eine reiche Komplementarität, die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bibel gemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zu helfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zu ergründen.“ (Nr. 249)
Doch nicht Texte sind die Hauptbotschaft von Franziskus. Er ist ein Mann der Begegnung. Und er will mehr, gerade auch mit den Juden. Er will Freundschaft. So sagte er bei einer der zahlreichen Empfänge von Juden im Vatikan: „Mir war es immer ein Anliegen zu betonen, wie wichtig Freundschaft zwischen Juden und Katholiken ist. Sie fusst auf einer Geschwisterlichkeit, die ihre Wurzeln in der Heilsgeschichte hat, und sie wird in Aufmerksamkeit füreinander konkret. Mit Ihnen zusammen danke ich dem Geber alles Guten für das Geschenk unserer Freundschaft – sie ist der Motor unseres Dialogs.“ Freundschaft hat er mit Juden bereits in seiner argentinischen Heimat gepflegt. Bekannt geworden ist sein Freund Rabbiner Abraham Skorka. Franziskus hat ihn als Begleiter auf seine Reise ins Heilige Land mitgenommen. An die Bedeutung der Freundschaft hat er bei dieser Reise gleich zwei Mal erinnert: An der Holocaustgedenkstätte Yad Vaschem hat er gefragt: „Mensch, wo bist Du?“ So fragt Gott den Adam in Gen 3, als er dieser die Freundschaft mit ihm verloren hatte. Warum bist du nicht mehr an deinem Platz vor mir? Franziskus fragt: Warum bist du Mensch so grausam geworden? Und an der Grenze zwischen Israel und Palästina hat er an der Trennmauer innegehalten. Warum die Mauer der Feindschaft? Warum können Palästinenser und Juden wenn nicht als Freunde, so doch wenigsten als Brüder leben? Diese Geste des Papstes war umso sprechender, als er zuvor an der Klagemauer gebetet hatte, an dem Ort, an dem Juden rituell Gott am nächsten sind und ihre besondere Beziehung mit ihm ausdrücken.
Franziskus hat in seiner Amtszeit starke Worte und Gesten für die jüdisch-christliche Beziehung gefunden. Die Shoa nennt er eine „götzendienerischen Konstruktion gegen das jüdische Volk“. Und er schreibt: „Jeder getötete Jude war eine Ohrfeige für den lebendigen Gott.“ Doch bei seinem Besuch in Auschwitz hat er das Schweigen gewählt. Minutenlang ist er im Schweigen verharrt. Jede Predigt und jedes Bibelwort wären zu viel gewesen. Doch mit Shoa-Überlebenden hat er danach gesprochen. Es war eine wertvolle Begegnung eines Freundes des jüdischen Volks.
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